Apg 1,12-14 und Lk 1,26-38
Es schleckt es keine Geiss weg, lange vor der Bekanntgabe der Missbrauchsfälle verliessen innerlich ganze Generationen das christliche Gedanken- und Glaubensgut. Eine souveräne, legere Gleichgültigkeit machte sich breit, die bis zum heutigen Tag andauert. Es gibt wohl so viele Erklärungen, wie es Menschen gibt, wenn jemand die Beziehung zu Gott und seiner Kirche nicht mehr sucht. Nebst der verbetonisierten, unrealistischen Sexualmoral und anderem Unglaubwürdigen gibt es noch so etwas wie eine stillschweigende Distanzierung. Das heutige Weltbild scheint unserem Glauben zu widersprechen, ja, der Glaube wirkt für viele Menschen unlogisch, naiv und verstaubt. Da behauptet die Kirche, Gott habe die Welt erschaffen – und die Welt spricht vom Urknall. Da erzählt die Bibel von der Schöpfung in sieben Tagen – und die Welt glaubt an die Evolutionstheorie. Da bekennen wir im Glaubensbekenntnis, dass Jesus zum Gericht wieder kommen wird und die Welt spricht davon, wie der Kosmos noch existieren wird, wenn die Spezies Mensch schon ausgestorben ist. Oder anders gesagt: In einem Universum aus verschiedenen Galaxien, der Kernreaktionen der Sonnen, den Supernova-Explosionen und den Schwarzen Löchern können viele Menschen keinen Schöpfer erkennen, der sorgend für uns Menschen da ist. Vielmehr scheint alles dem Zufall überlassen. Die Welt ist nicht dabei nur gigantischer und technischer zu werden, sondern sie ist entzaubert, verweltlicht und auch kälter. New Age und Esoterik sind nur eine Art der Antwort auf dieses grosse Nichts, auf diesen unpersönlichen Zufall, den wir Kosmos nennen.
„In jener Zeit wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazareth zu einer Jungfrau gesandt.“ Welche andere Sprache im heutigen Evangelium. Da geschieht Zuwendung. Gott sorgt sich, schickt seinen Engel und geht auf den Menschen zu. Aber gerade da zweifelt ja der moderne Mensch. Kümmert sich Gott wirklich um seine Schöpfung, um uns Menschen? Bedenken wir Folgendes: Wissenschaft und Glaube sprechen nicht die gleiche Sprache, sie haben sogar andere Voraussetzungen in ihrem Suchen. Die Wissenschaften untersuchen Phänomene, werten Einzeldaten aus, gehen logisch vor und kümmern sich dabei nicht um den Sinn des Daseins. Wenn in der Wissenschaft Gott überhaupt eine Rolle spielt, dann am Ende des Denkens: Es könnte ja sein, dass so etwas wie Gott existiert, der dem Ganzen schlussendlich einen Sinn gibt. Der Glaube dagegen setzt Gott an den Anfang unseres Suchens und ist auf Hoffnung ausgerichtet. Schön sagt es das Zweite Vatikanische Konzil: „Die Bibel beschreibt nicht die Natur, sondern bezeugt das Heil Gottes für den Menschen. „Genau dieses Geheimnis der Menschwerdung kann man nur betend betrachten“.
Was soll nun ausgerechnet jenes vergessene Kettengebet Rosenkranz, das noch kaum jemand über die Lippen bringt? Ein mehr oder weniger uncooles, eintöniges, einschläferndes Gebet, das heruntergeleiert wird und nichts in mir bewirkt. Viele wollen mit eigenen Worten beten. Wir wollen Erfinderinnen und Erfinder von Selbstformuliertem werden. Aber, erlauben Sie mir die Frage, können wir pausenlos Erfindende eigener Gebete sein? Die Gefahr besteht, sich dabei zu überfordern, zu viele Worte zu machen und nichts zu sagen, so ergeht es wenigstens mir.
Gerade in schwierigen Zeiten, wo es einem die Sprache verschlägt, wo man kaum noch richtig durchatmen kann, da ist gerade das Rosenkranzgebet eine willkommene Hilfe. Gerne bete ich ihn allein, ziehe aber vor, ihn in Gemeinschaft zu beten. Auch wenn ich nicht beten kann, fühle ich mich von den Mitbetenden getragen und hoffentlich auch umgekehrt. Ich darf im Gebetsfluss meiner Schwestern und Brüder sein, dann, wenn ich z. B. durch Enttäuschungen radikal blockiert bin. Auch wenn ich mit meinen Gedanken abschweife, Hauptsache Gott, ich bin da! Das genügt ihm. Gerade in der schwierigsten Zeit der Kirchengeschichte, in der wir uns befinden, ist es eine Hilfe, im Rosenkranzgebet miteinander das Leiden Jesu zu betrachten, höchst sinnvoll mit Maria, der Mutter der Kirche.
Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat – die existentielle, sichtbare Angst
Jesus, der für uns gegeisselt worden ist – Spuren des Hasses und der Verachtung
Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist – Akt der Verachtung und der Blossstellung
Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat – die Lasten der Welt und der Kirche
Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist – ausgespannt zwischen Gottlosem und Himmel
Und er hat es ausgehalten und durchgetragen in der Gewissheit, dass das Schmutzige, Falsche, Menschenunwürdige, zum Himmel Schreiende, und zwar nicht nur durch die Missbrauchsfälle, sondern auf vielen anderen Ebenen, nicht das letzte Wort hat. Liebe Mitmenschen, im Anfang war das Wort – es bleibt bis zum Ende. Genau diese Wahrheit und diese Hoffnung können den betenden Menschen nicht genommen werden. Vielleicht ist das Auseinanderfallen der Kirche ein untrügliches Zeichen, dass wir nur als betende und feiernde Gemeinschaft überleben können.
René Hügin, Pfarrer